Dienstag, 12. Juni 2018

Promenadenkonzerte als Friedensprojekt

Die Innsbrucker Promenadenkonzerte als Friedensprojekt

 Musik ist Weltanschauung in Tönen. Seine Mitbürger kennenzulernen und zu schätzen, bedeutet also auch, sie über ihre Musik zu verstehen: das Ideal eines urbanen Lebens!

 Stadtluft macht frei. Dieser Satz ist allgemein bekannt. Seine Herkunft weniger: Im Mittelalter setzten sich nämlich immer mehr Leibeigene aus Burgen und Klöstern in die Städte ab, wo sie für ihre Grundherren unauffindbar waren. Daraus entwickelte sich der Rechtsbrauch, dass ein in einer Stadt wohnender Unfreier „nach Jahr und Tag“ nicht mehr von seinem Dienstherrn zurückgefordert werden konnte. Er war also frei. Aus dieser Freiheit von Obrigkeit und Leibeigenschaft wurde, wie der Satz aus moderner Sicht interpretiert wird, inzwischen die Freiheit, nach eigener Fasson und Weltanschauung zu leben. Die Frage, in welchem Rahmen diese Freiheit und das damit verbundene freie Leben sich konkret zu bewegen haben, wurde vor dem Hintergrund des gesetzlich verordneten Verbots der Vollverschleierung gerade jüngst Ausgangspunkt heftiger Diskussionen.
Denn die Freiheit des Stadtlebens beruht – zumindest im Westen – im Gegensatz zur konservativen Gleichschaltung des ländlichen Dorflebens oder zu gewaltsam homogenisierten Kulturen totalitärer Regime auf innerer Diversität bei gleichzeitig äußerer Scheinuniformität. Der Städter trifft im Wissen um die Fragilität der Freiheit mit seinen Mitbürgern die Übereinkunft, den jeweils anderen in seinem Paralleluniversum so lange nicht zu stören, als er selbst von ihm nicht gestört wird. Wobei das Phänomen der Störung sich im Wesentlichen auf eine Kleider- und Verhaltensordnung bezieht, die auf Neutralität abzielt und die jeweilige weltanschauliche Ausrichtung des Einzelnen vor den Blicken des anderen schützt.
So sitzen in öffentlichen Verkehrsmitteln friedlich Gläubige neben Nichtgläubigen, Militaristen neben Pazifisten, Heterosexuelle neben Homosexuellen, Linke neben Rechten, Arme neben Reichen. Wenn sie wüssten, wie ihre Nebenfrau oder ihr Nebenmann lebt, fühlt, begehrt und, vor allem, was er über sie denkt, könnte rasch ein Bürgerkrieg ausbrechen. Da sie es nicht wissen und auch nicht wissen wollen, begegnet man sich im freundlich-zivilisierten Smalltalk über den verregneten Sommer. Insofern macht Stadtluft tatsächlich frei. Eine Freiheit, die plötzlich bedroht ist, wenn Personen in den Bus einsteigen, an deren Kleidung und Verhalten unmissverständlich abzulesen ist, dass sie einer Lebenskultur, Ideologie oder Religion angehören, die Andersdenkende als Dummköpfe, Reaktionäre oder Ungläubige abqualifiziert.
Eine umfangreiche, geradezu amüsante Übersicht über die verschiedenen Milieus, die auch unser Land im Gebirge besiedeln, hat der deutsche Soziologe Gerhard Schulze in seiner Untersuchung Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart, Campus Verlag 1992, vorgelegt.
Das Standardwerk erschien zu einem Zeitpunkt, als das Internet noch nicht die Breitenwirksamkeit von heute entfaltet und die Bildung sozialer Blasen und ihrer informationellen Eigenversorgung noch nicht epidemische Ausmaße angenommen hatte. Die Erwartung, dass sich durch Internet und globale Vernetzung verschiedene gesellschaftliche Milieus eher vermischen würden, hat sich nämlich als zu optimistisch erwiesen. In vielen Fällen scheint eher eine gegenteilige Entwicklung eingetreten zu sein. In einer Welt, in der es immer unwahrscheinlicher wird, über Versatzstücke der Kultur anderer zu stolpern und aus Zufall oder schicksalhafter Herausforderung Interesse am Fremden zu entwickeln, schirmen die Milieus sich immer radikaler voneinander ab und sind im extremsten Fall in einen ideologischen und kulturellen Widerstreit getreten, der sich in anonymen Foren hasserfüllt entlädt.
Interessant – um hiermit zum Vorwort eines Programmbuches für eine Konzertreihe hinzuführen – ist die Tatsache, dass Gerhard Schulzes Milieustudie sich auch auf jeweils sehr verschieden geartete musikalische Geschmäcker und damit auf die Bevorzugung verschiedener Arten von Musik bezieht.
Schulze beschreibt fünf verschiedene Milieus, deren erstes er Niveaumilieu (1) nennt.
Seine Lebensphilosophie baut auf Perfektion auf, seine Liebe gilt der klassischen Musik, Opern- und Theateraufführungen. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Weltverankerung, Streben nach Rang, Komplexität; Erlebnisparadigma: Nobelpreisverleihung.)
Es ist nicht schwer zu erraten, dass dieses Niveaumilieu auch bei den Innsbrucker Promenadenkonzerten zu einem beachtlichen Teil durch all jene Damen und Herren vertreten wird, die das Ende der Konzertsaison im Congress Innsbruck und die Ferien im Tiroler Landestheater dazu benützen, ihre musikalischen Sehnsüchte im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg zu befriedigen – wie es ja schon zu Mozarts Zeiten üblich war, Ausschnitte aus berühmten Werken vor allem der gerade aktuellen Opernproduktion bei abendlichen Serenaden darzubieten.
Dem Niveaumilieu entgegengesetzt ist das sogenannte Harmoniemilieu (2), dessen Verhalten dadurch gekennzeichnet ist, nicht aufzufallen, und dessen Lebensphilosophie Harmonie anstrebt. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Weltverankerung, Streben nach Geborgenheit, Einfachheit; Erlebnisparadigma: Hochzeit.) Dieses Milieu bevorzugt im Gegensatz zu den Anhängern der Klassik eher Volksmusik, Unterhaltungsmusik, traditionelle Blasmusik und – 1992 gab’s die Dame noch nicht – ganz bestimmt Helene Fischer.
Ein weiteres Milieu der Schulze’schen Studie ist das Integrationsmilieu (3), das als Mischung aus Niveau- und Harmoniemilieu definiert wird. Sein Verhaltensziel ist Gemütlichkeit und Kontemplation, es definiert sich als antiexzentrisch und bevorzugt Harmonie und Perfektion zugleich. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Weltverankerung, Streben nach Konformität; Erlebnisparadigma: die nette Runde.) Bevorzugte Musikrichtungen sind die sogenannte Ernste Musik im Sinne von Klassik light, aber auch Jazz, fallweise Opern und Konzerte.
Im Unterschied zu den Vertretern des Niveau- und des Harmoniemilieus ist das Integrationsmilieu im Rahmen der Innsbrucker Promenadenkonzerte durchaus bereit, ohne Fundamentalkritik an der Veranstaltungsdra-maturgie hochkarätige zeitgenössische Werke ebenso zu akzeptieren, wie am Ende des Konzerts Freude an ei-nem Filmmusikmedley oder einem Walzer zu haben.
Eine solche Toleranz fällt dem Selbstverwirklichungsmilieu (4) in gleicher Weise schwerer, wie es auch für alle anderen bereits genannten Milieus eine Herausforderung ist, die von diesem Milieu besonders geschätzten Musikrichtungen wie Weltmusik, Rock oder Folk zu akzeptieren.
Das Selbstverwirklichungsmilieu lehnt zudem Volksmusik, Volkslieder und vor allem Blasmusik dezidiert ab. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Ich-Verankerung, Streben nach Selbstver-wirklichung und Spontaneität, Komplexität; Erlebnisparadigma: Künstler.) Wen wundert es daher, dass auch im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg beim Konzert einer Bigband – im Vergleich zum Konzert einer Trachtenkapelle – ein beträchtlicher Publikumsaustausch stattfindet, ein Phänomen, das sich ganz im Gegensatz zum Klischee vom trinkfreudigen Trachtenträger an der Getränkebar durch eine Verdoppelung des Bierkonsums bei Bigband-Konzerten nachweisen lässt.
Bleibt in der Schulze’schen Weltordnung zuletzt noch das Unterhaltungsmilieu (5), dessen Lebensphilosophie auf Action ausgerichtet ist, das sich antikonventionell definiert und lebensphilosophisch in erster Linie auf Narzissmus aufbaut. Angehörige dieses Milieus bevorzugen Pop, Rock, Folk, Unterhaltungsmusik und Diskobesuche. Mit Oper, Theater und Hochkultur, aber auch mit Jazz können die Vertreter dieses Milieus nicht viel anfangen. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Ich-Verankerung, Streben nach Stimulation und Spontaneität, Einfachheit; Erlebnisparadigma: Miami Beach bzw. Red Bull.)
Was resultiert für die Innsbrucker Promenadenkonzerte aus solchen Beobachtungen? Die Konzertreihe wurde unter anderem von der viel zu früh verstorbenen, innovationsfreudigen Bürgermeisterin von Innsbruck, Hilde Zach, auch deshalb vertrauensvoll gefördert, weil sie sich als niederschwelliges, kostenlos zugängliches und lediglich um Spenden bettelndes Kulturangebot für alle definierte. Hilde Zach träumte, wie die Veranstalter der Innsbrucker Promenadenkonzerte es heute noch tun, von einer Stadt, die samt ihrem Umland nicht in isolierte Untergruppen auseinanderbricht, die gegenseitig nichts miteinander zu tun haben wollen, sondern von einer Landeshauptstadt, die möglichst viele als ihre Stadt, als urbane Heimat betrachten können – eine Stadt, die aus dieser Gesinnung heraus auch ihrer internationalen Gästeschar eine Stätte der Begegnung ist, jene besondere Qualität, die unter Tiroler Gastfreundschaft firmiert und als Alleinstellungs-merkmal des so erfolgreichen Tiroler Tourismus angesehen werden kann.
Tatsächlich besuchen durch den Ort der Veranstaltung im Zentrum der Innsbrucker Altstadt über all jene hinaus, die sich bewusst für ein Abendkonzert oder eine Matinee entschieden haben, hunderte städtische Flaneure die Innsbrucker Promenadenkonzerte. Ohne dezidiert die Absicht gehabt zu haben, sich mit Kultur zu belasten, bleiben sie stehen oder setzen sich hin, wenn ein Orchester ein sie ansprechendes Programm bietet und engagiert aufspielt. Viele von ihnen lernen auf emotional-musikalische Art und Weise dabei Tirol, Österreich und die europäische Kultur kennen, wie es sonst nie in dieser intensiven Art und Weise möglich gewesen wäre und wie es in keiner anderen mitteleuropäischen Stadt in dieser Art möglich ist.
Aber auch jene, die sich den Abend bewusst freigenommen haben, um ihn unter freiem Himmel im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg zu verbringen, werden – sofern nicht die Instrumentation eines Orchesters wie bei Bigbands oder zum Teil auch bei Brassbands von vorneherein zu einer gewissen Literatur verpflichtet – bei keinem der Konzerte ausschließlich im Sinne ihres Milieus bedient. Da sie ihre Konzertreihe bewusst als Friedensprojekt definieren, ist es auch Absicht der Veranstalter, das Publikum, ob es nun Volksmusik, Marschmusik, Klassik, Filmmusik, moderne Unterhaltungsmusik oder zeitgenössische E-Musik liebt, dazu zu bewegen, auch anderes auszuhalten und zu akzeptieren, um es im Idealfall sogar lieben zu lernen. Dabei kann es schon sein, dass sich Teile der Zuhörerschaft überfordert fühlen und in eine öffentliche Diskussion darüber eintreten, ob die Innsbrucker Promenadenkonzerte die traditionelle Tiroler Blasmusik aus dem Auge verloren haben. Nein! Haben sie nicht! Das Ziel der Konzertreihe ist es jedoch nicht so sehr, die einheimischen Blasmusikanten, die sich selbst und Ihresgleichen am liebsten spielen hören, in ihrem Narzissmus zu bestärken. Dies gilt übrigens auch für alle anderen Milieus, die im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg aufeinandertreffen! Das Ziel ist vielmehr, die Horizonte für jede nur mögliche Art von Musik aufzureißen, sofern sie sich für eine Aufführung durch Bläser-Ensembles eignet. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Liebe zu einer spezifischen Musik nicht nur die bedeutungslose Schrulle zeitgeistigen Freizeitkonsums ist. Sie repräsentiert vielmehr in viel tieferem Ausmaß, als es uns allen bewusst ist – anders ist die überragende Bedeutung von Musik im Rahmen unseres täglichen Medienkonsums nicht zu erklären –, eine emotionale und in Töne übertragene Antwort auf die entscheidenden Lebensfragen, die sich jeder zu stellen hat: Woher kommen wir? Wer sind wir? Und wohin gehen wir? Die Musik ist eine Antwort in Tönen auf grundsätzliche Sinnfragen. In ihrer höchsten Vollendung lässt sie unser Leben für kurze Momente in einer Art stillstehen, wie wir es als heiles Leben, in diesem Moment geheiligtes Leben, als in diesem Sinn ideales Leben empfinden. Die Verschiedenheit von Musik spiegelt die Verschiedenheit der weltanschaulichen Antworten wider.
Wenn wir unsere Mitmenschen verstehen wollen, müssen wir sie auch insofern verstehen lernen, als wir ihre Musik verstehen. Und wenn wir sie über die kühle städtische Toleranz und Freiheit des Den-anderen-in-Ruhe-Lassens hinaus wertzuschätzen versuchen, müssen wir auch ihre Musik wertschätzen lernen, sonst ist es mit der gelebten gesellschaftlichen Solidarität nicht weit her. Es gilt als Zeichen von Bildung, eine Symphonie als das Höchste in der Kunstmusik einzuschätzen, auch wenn nicht wenige dabei einschlafen. Ganz im Gegensatz dazu werden Märsche als Ausdruck reaktionärer Gesinnung gehandelt, auch wenn sie in ihrer strengen Form und in ihrer melodischen Anforderung die Originalität des Komponisten bis zum Äußersten herausfordern. Und was soll ein Jazzfan mit einem Walzer anfangen, dieser süßlichen Lüge? Was ein Freund der Streichermusik mit dem Krach einer Brassband? Originalkompositionen für Blasorchester erscheinen vielen, die sich der Hochkultur zugehörig fühlen, als nicht ernst zu nehmende Versuche mittelmäßiger Komponisten, sich wichtig zu machen. Obwohl es oft stimmt, stimmt es nicht immer. Denn die Kunstmusik gehört nicht nur den Symphonieorchestern und den geschniegelten Damen und Herren im feierlichen Gewande! Die Litanei von Vorurteilen, die lediglich der auf die Musik bezogene Teil eines viel umfassenderen Pakets von Vorurteilen ist, die das eine Milieu gegenüber dem anderen hegt, könnte noch lange fortgesetzt werden. In der Abneigung bzw. im Verständnis gegenüber der Musik der anderen erweist sich der innere Frieden einer Gesellschaft als gegeben oder nicht. Um ihn zu erhöhen, ihn zu erhalten oder ihn noch mehr herbeizuführen, haben es sich die Innsbrucker Promenadenkonzerte zum Ziel gesetzt, für Toleranz zumindest im Bereich der Musik zu werben. Dies geschieht ganz konkret durch die Bitte an alle Orchester, in ihren Programmen möglichst viele musikgeschichtliche Epochen, möglichst viele musikalische Stilrichtungen und möglichst viele musikalische Genres wiederzugeben. Dies wiederum führt dazu, dass die Programme in der Regel mehr als zehn Stücke enthalten, von denen keines länger als 15 Minuten sein sollte.
Und es führt dazu, dass das Publikum, das den Innenhof der Kaiserlichen Hofburg jederzeit betreten, aber auch wieder verlassen kann, im ersten Teil eines Konzerts zur Musik verführt werden soll. Im zweiten Teil, wenn das Orchester durch Können und Leidenschaft ein entsprechendes Vertrauen aufgebaut hat, soll das Publikum durch komplexere Werke herausgefordert werden. Im dritten Teil wird es, durch eingängige Melodien und Evergreens versöhnt, wieder in den Abend entlassen.

Das Team der Innsbrucker Promenadenkonzerte würde sich glücklich schätzen, wenn es auch 2018 gelänge, im Gesamtkunstwerk von 350 verschiedenen Werken, die von 38 verschiedenen Orchestern und Ensembles an 28 Spieltagen aufgeführt werden, die breite Palette einer modernen Gesellschaft, die in gegenseitiger Toleranz zu leben gelernt hat, widerzuspiegeln. Alois Schöpf, künstlerischer Leiter