Freitag, 17. August 2018

Promenadenkonzerte auch heuer ein Besuchermagnet

Der Künstlerische Leiter Alois Schöpf freut sich über eine „Frequenz“ von rund 60.000 Gästen – und lobt das Niveau der Tiroler Musikszene.
 
Von Michael Domanig  Tiroler Tageszeitung
Innsbruck – 34 Konzerte von 38 Ensembles an 28 Tagen bot die heurige 24. Auflage der Innsbrucker Promenadenkonzerte im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg. Wenig­e Tage nach dem Ende der Mammut-Konzertreihe zieht der Künstlerische Leiter Alois Schöpf eine sehr positive Bilanz – sowohl was die Auslastun­g als auch was das musikalische Niveau angeht.
Rechne man zu den sitzenden Konzertgästen noch die „Laufkundschaft“ hinzu, komme man heuer wieder auf ein­e „Frequenz“ von ingesamt 60.000 bis 65.000 Besuchern, berichtet Schöpf. Dabei habe man von fast perfektem Wetter profitiert – „noch nicht zu heiß, nur ein Abend komplett verregnet, zwei weitere leicht angeregnet“.
Auch künstlerisch ist Schöpf hochzufrieden. Nur ein Abend mit gleich drei Tiroler Trachtenkapellen sei „dramaturgisch nicht ganz aufgegangen, das war wohl zu viel“. Generell werde „der Anteil professioneller und semiprofessioneller Orchester immer größer“, ganz im Sinne der Promenadenkonzerte, die das Ziel hätten, „die absolute qualitative Oberklasse in Sachen Blasmusik“ zu bieten.
Für Schöpf besonders erfreulich: „Das kleine Land Tirol bietet eine erhebliche Zahl an hochwertigen Musikensembles, die international voll mithalten können und sich auf der Höhe der Zeit bewegen.“ Als Beispiele nennt er das „fulminante Konzert“ der Brass Band Fröschl Hall unter der Leitung des Schweizers Corsin Tuor oder die Auftritte des Sinfonischen Blasorchesters Tirol, der Bläserphilharmonie Osttirol und des Orchesters der Akademie St. Blasius. „Es gibt viel tollen Nachwuchs, auch im sinfonischen und Jazz-Bereich. Hut ab vor der derzeitigen Musikausbildung“, bilanziert Schöpf. Dass die Blasmusik bei Angehörigen der „Hochkultur“ immer noch einen schlechten Ruf habe und von diesen „missachtet“ werde, ärgere ihn angesichts der hohe Qualität des Dargebotenen mehr denn je, ergänzt er.
Teils heftige Reaktionen löst­e Schöpf mit Statements zum Thema Brexi­t bei den Konzerten und im Programmbuch aus: „Ich habe gesagt, dass es für viele Tiroler und Österreicher unverständlich ist, wie Großbritannien, das Land von Shakespeare, Newton, Darwin und vielen anderen, die EU verlassen kann – und dass britische Besucher daheim davon erzählen sollen.“ Mit der Einladung mehrerer britischer Ensembles, die hohen Aufwand und veranstalterisches Risiko bedeute, habe er ein „positives Zeichen“ setzen wollen, dass Großbritannien weiter zu Europa gehöre.
Für das 25-Jahr-Jubiläum der Promenadenkonzerte im kommenden Jahr verspricht Schöpf – nach derzeitigem Stand – unter anderem Auftritte von „drei der besten Militärorchester Europas sowie von Weltmeistern aus dem Bereich Brassbands und Blas­orchester“. Noch sei aber nichts „in trockenen Tücher­n“.

Dienstag, 12. Juni 2018

Promenadenkonzerte als Friedensprojekt

Die Innsbrucker Promenadenkonzerte als Friedensprojekt

 Musik ist Weltanschauung in Tönen. Seine Mitbürger kennenzulernen und zu schätzen, bedeutet also auch, sie über ihre Musik zu verstehen: das Ideal eines urbanen Lebens!

 Stadtluft macht frei. Dieser Satz ist allgemein bekannt. Seine Herkunft weniger: Im Mittelalter setzten sich nämlich immer mehr Leibeigene aus Burgen und Klöstern in die Städte ab, wo sie für ihre Grundherren unauffindbar waren. Daraus entwickelte sich der Rechtsbrauch, dass ein in einer Stadt wohnender Unfreier „nach Jahr und Tag“ nicht mehr von seinem Dienstherrn zurückgefordert werden konnte. Er war also frei. Aus dieser Freiheit von Obrigkeit und Leibeigenschaft wurde, wie der Satz aus moderner Sicht interpretiert wird, inzwischen die Freiheit, nach eigener Fasson und Weltanschauung zu leben. Die Frage, in welchem Rahmen diese Freiheit und das damit verbundene freie Leben sich konkret zu bewegen haben, wurde vor dem Hintergrund des gesetzlich verordneten Verbots der Vollverschleierung gerade jüngst Ausgangspunkt heftiger Diskussionen.
Denn die Freiheit des Stadtlebens beruht – zumindest im Westen – im Gegensatz zur konservativen Gleichschaltung des ländlichen Dorflebens oder zu gewaltsam homogenisierten Kulturen totalitärer Regime auf innerer Diversität bei gleichzeitig äußerer Scheinuniformität. Der Städter trifft im Wissen um die Fragilität der Freiheit mit seinen Mitbürgern die Übereinkunft, den jeweils anderen in seinem Paralleluniversum so lange nicht zu stören, als er selbst von ihm nicht gestört wird. Wobei das Phänomen der Störung sich im Wesentlichen auf eine Kleider- und Verhaltensordnung bezieht, die auf Neutralität abzielt und die jeweilige weltanschauliche Ausrichtung des Einzelnen vor den Blicken des anderen schützt.
So sitzen in öffentlichen Verkehrsmitteln friedlich Gläubige neben Nichtgläubigen, Militaristen neben Pazifisten, Heterosexuelle neben Homosexuellen, Linke neben Rechten, Arme neben Reichen. Wenn sie wüssten, wie ihre Nebenfrau oder ihr Nebenmann lebt, fühlt, begehrt und, vor allem, was er über sie denkt, könnte rasch ein Bürgerkrieg ausbrechen. Da sie es nicht wissen und auch nicht wissen wollen, begegnet man sich im freundlich-zivilisierten Smalltalk über den verregneten Sommer. Insofern macht Stadtluft tatsächlich frei. Eine Freiheit, die plötzlich bedroht ist, wenn Personen in den Bus einsteigen, an deren Kleidung und Verhalten unmissverständlich abzulesen ist, dass sie einer Lebenskultur, Ideologie oder Religion angehören, die Andersdenkende als Dummköpfe, Reaktionäre oder Ungläubige abqualifiziert.
Eine umfangreiche, geradezu amüsante Übersicht über die verschiedenen Milieus, die auch unser Land im Gebirge besiedeln, hat der deutsche Soziologe Gerhard Schulze in seiner Untersuchung Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart, Campus Verlag 1992, vorgelegt.
Das Standardwerk erschien zu einem Zeitpunkt, als das Internet noch nicht die Breitenwirksamkeit von heute entfaltet und die Bildung sozialer Blasen und ihrer informationellen Eigenversorgung noch nicht epidemische Ausmaße angenommen hatte. Die Erwartung, dass sich durch Internet und globale Vernetzung verschiedene gesellschaftliche Milieus eher vermischen würden, hat sich nämlich als zu optimistisch erwiesen. In vielen Fällen scheint eher eine gegenteilige Entwicklung eingetreten zu sein. In einer Welt, in der es immer unwahrscheinlicher wird, über Versatzstücke der Kultur anderer zu stolpern und aus Zufall oder schicksalhafter Herausforderung Interesse am Fremden zu entwickeln, schirmen die Milieus sich immer radikaler voneinander ab und sind im extremsten Fall in einen ideologischen und kulturellen Widerstreit getreten, der sich in anonymen Foren hasserfüllt entlädt.
Interessant – um hiermit zum Vorwort eines Programmbuches für eine Konzertreihe hinzuführen – ist die Tatsache, dass Gerhard Schulzes Milieustudie sich auch auf jeweils sehr verschieden geartete musikalische Geschmäcker und damit auf die Bevorzugung verschiedener Arten von Musik bezieht.
Schulze beschreibt fünf verschiedene Milieus, deren erstes er Niveaumilieu (1) nennt.
Seine Lebensphilosophie baut auf Perfektion auf, seine Liebe gilt der klassischen Musik, Opern- und Theateraufführungen. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Weltverankerung, Streben nach Rang, Komplexität; Erlebnisparadigma: Nobelpreisverleihung.)
Es ist nicht schwer zu erraten, dass dieses Niveaumilieu auch bei den Innsbrucker Promenadenkonzerten zu einem beachtlichen Teil durch all jene Damen und Herren vertreten wird, die das Ende der Konzertsaison im Congress Innsbruck und die Ferien im Tiroler Landestheater dazu benützen, ihre musikalischen Sehnsüchte im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg zu befriedigen – wie es ja schon zu Mozarts Zeiten üblich war, Ausschnitte aus berühmten Werken vor allem der gerade aktuellen Opernproduktion bei abendlichen Serenaden darzubieten.
Dem Niveaumilieu entgegengesetzt ist das sogenannte Harmoniemilieu (2), dessen Verhalten dadurch gekennzeichnet ist, nicht aufzufallen, und dessen Lebensphilosophie Harmonie anstrebt. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Weltverankerung, Streben nach Geborgenheit, Einfachheit; Erlebnisparadigma: Hochzeit.) Dieses Milieu bevorzugt im Gegensatz zu den Anhängern der Klassik eher Volksmusik, Unterhaltungsmusik, traditionelle Blasmusik und – 1992 gab’s die Dame noch nicht – ganz bestimmt Helene Fischer.
Ein weiteres Milieu der Schulze’schen Studie ist das Integrationsmilieu (3), das als Mischung aus Niveau- und Harmoniemilieu definiert wird. Sein Verhaltensziel ist Gemütlichkeit und Kontemplation, es definiert sich als antiexzentrisch und bevorzugt Harmonie und Perfektion zugleich. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Weltverankerung, Streben nach Konformität; Erlebnisparadigma: die nette Runde.) Bevorzugte Musikrichtungen sind die sogenannte Ernste Musik im Sinne von Klassik light, aber auch Jazz, fallweise Opern und Konzerte.
Im Unterschied zu den Vertretern des Niveau- und des Harmoniemilieus ist das Integrationsmilieu im Rahmen der Innsbrucker Promenadenkonzerte durchaus bereit, ohne Fundamentalkritik an der Veranstaltungsdra-maturgie hochkarätige zeitgenössische Werke ebenso zu akzeptieren, wie am Ende des Konzerts Freude an ei-nem Filmmusikmedley oder einem Walzer zu haben.
Eine solche Toleranz fällt dem Selbstverwirklichungsmilieu (4) in gleicher Weise schwerer, wie es auch für alle anderen bereits genannten Milieus eine Herausforderung ist, die von diesem Milieu besonders geschätzten Musikrichtungen wie Weltmusik, Rock oder Folk zu akzeptieren.
Das Selbstverwirklichungsmilieu lehnt zudem Volksmusik, Volkslieder und vor allem Blasmusik dezidiert ab. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Ich-Verankerung, Streben nach Selbstver-wirklichung und Spontaneität, Komplexität; Erlebnisparadigma: Künstler.) Wen wundert es daher, dass auch im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg beim Konzert einer Bigband – im Vergleich zum Konzert einer Trachtenkapelle – ein beträchtlicher Publikumsaustausch stattfindet, ein Phänomen, das sich ganz im Gegensatz zum Klischee vom trinkfreudigen Trachtenträger an der Getränkebar durch eine Verdoppelung des Bierkonsums bei Bigband-Konzerten nachweisen lässt.
Bleibt in der Schulze’schen Weltordnung zuletzt noch das Unterhaltungsmilieu (5), dessen Lebensphilosophie auf Action ausgerichtet ist, das sich antikonventionell definiert und lebensphilosophisch in erster Linie auf Narzissmus aufbaut. Angehörige dieses Milieus bevorzugen Pop, Rock, Folk, Unterhaltungsmusik und Diskobesuche. Mit Oper, Theater und Hochkultur, aber auch mit Jazz können die Vertreter dieses Milieus nicht viel anfangen. (Weitere wissenssoziologische Eigenschaften nach Schulze: Ich-Verankerung, Streben nach Stimulation und Spontaneität, Einfachheit; Erlebnisparadigma: Miami Beach bzw. Red Bull.)
Was resultiert für die Innsbrucker Promenadenkonzerte aus solchen Beobachtungen? Die Konzertreihe wurde unter anderem von der viel zu früh verstorbenen, innovationsfreudigen Bürgermeisterin von Innsbruck, Hilde Zach, auch deshalb vertrauensvoll gefördert, weil sie sich als niederschwelliges, kostenlos zugängliches und lediglich um Spenden bettelndes Kulturangebot für alle definierte. Hilde Zach träumte, wie die Veranstalter der Innsbrucker Promenadenkonzerte es heute noch tun, von einer Stadt, die samt ihrem Umland nicht in isolierte Untergruppen auseinanderbricht, die gegenseitig nichts miteinander zu tun haben wollen, sondern von einer Landeshauptstadt, die möglichst viele als ihre Stadt, als urbane Heimat betrachten können – eine Stadt, die aus dieser Gesinnung heraus auch ihrer internationalen Gästeschar eine Stätte der Begegnung ist, jene besondere Qualität, die unter Tiroler Gastfreundschaft firmiert und als Alleinstellungs-merkmal des so erfolgreichen Tiroler Tourismus angesehen werden kann.
Tatsächlich besuchen durch den Ort der Veranstaltung im Zentrum der Innsbrucker Altstadt über all jene hinaus, die sich bewusst für ein Abendkonzert oder eine Matinee entschieden haben, hunderte städtische Flaneure die Innsbrucker Promenadenkonzerte. Ohne dezidiert die Absicht gehabt zu haben, sich mit Kultur zu belasten, bleiben sie stehen oder setzen sich hin, wenn ein Orchester ein sie ansprechendes Programm bietet und engagiert aufspielt. Viele von ihnen lernen auf emotional-musikalische Art und Weise dabei Tirol, Österreich und die europäische Kultur kennen, wie es sonst nie in dieser intensiven Art und Weise möglich gewesen wäre und wie es in keiner anderen mitteleuropäischen Stadt in dieser Art möglich ist.
Aber auch jene, die sich den Abend bewusst freigenommen haben, um ihn unter freiem Himmel im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg zu verbringen, werden – sofern nicht die Instrumentation eines Orchesters wie bei Bigbands oder zum Teil auch bei Brassbands von vorneherein zu einer gewissen Literatur verpflichtet – bei keinem der Konzerte ausschließlich im Sinne ihres Milieus bedient. Da sie ihre Konzertreihe bewusst als Friedensprojekt definieren, ist es auch Absicht der Veranstalter, das Publikum, ob es nun Volksmusik, Marschmusik, Klassik, Filmmusik, moderne Unterhaltungsmusik oder zeitgenössische E-Musik liebt, dazu zu bewegen, auch anderes auszuhalten und zu akzeptieren, um es im Idealfall sogar lieben zu lernen. Dabei kann es schon sein, dass sich Teile der Zuhörerschaft überfordert fühlen und in eine öffentliche Diskussion darüber eintreten, ob die Innsbrucker Promenadenkonzerte die traditionelle Tiroler Blasmusik aus dem Auge verloren haben. Nein! Haben sie nicht! Das Ziel der Konzertreihe ist es jedoch nicht so sehr, die einheimischen Blasmusikanten, die sich selbst und Ihresgleichen am liebsten spielen hören, in ihrem Narzissmus zu bestärken. Dies gilt übrigens auch für alle anderen Milieus, die im Innenhof der Kaiserlichen Hofburg aufeinandertreffen! Das Ziel ist vielmehr, die Horizonte für jede nur mögliche Art von Musik aufzureißen, sofern sie sich für eine Aufführung durch Bläser-Ensembles eignet. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Liebe zu einer spezifischen Musik nicht nur die bedeutungslose Schrulle zeitgeistigen Freizeitkonsums ist. Sie repräsentiert vielmehr in viel tieferem Ausmaß, als es uns allen bewusst ist – anders ist die überragende Bedeutung von Musik im Rahmen unseres täglichen Medienkonsums nicht zu erklären –, eine emotionale und in Töne übertragene Antwort auf die entscheidenden Lebensfragen, die sich jeder zu stellen hat: Woher kommen wir? Wer sind wir? Und wohin gehen wir? Die Musik ist eine Antwort in Tönen auf grundsätzliche Sinnfragen. In ihrer höchsten Vollendung lässt sie unser Leben für kurze Momente in einer Art stillstehen, wie wir es als heiles Leben, in diesem Moment geheiligtes Leben, als in diesem Sinn ideales Leben empfinden. Die Verschiedenheit von Musik spiegelt die Verschiedenheit der weltanschaulichen Antworten wider.
Wenn wir unsere Mitmenschen verstehen wollen, müssen wir sie auch insofern verstehen lernen, als wir ihre Musik verstehen. Und wenn wir sie über die kühle städtische Toleranz und Freiheit des Den-anderen-in-Ruhe-Lassens hinaus wertzuschätzen versuchen, müssen wir auch ihre Musik wertschätzen lernen, sonst ist es mit der gelebten gesellschaftlichen Solidarität nicht weit her. Es gilt als Zeichen von Bildung, eine Symphonie als das Höchste in der Kunstmusik einzuschätzen, auch wenn nicht wenige dabei einschlafen. Ganz im Gegensatz dazu werden Märsche als Ausdruck reaktionärer Gesinnung gehandelt, auch wenn sie in ihrer strengen Form und in ihrer melodischen Anforderung die Originalität des Komponisten bis zum Äußersten herausfordern. Und was soll ein Jazzfan mit einem Walzer anfangen, dieser süßlichen Lüge? Was ein Freund der Streichermusik mit dem Krach einer Brassband? Originalkompositionen für Blasorchester erscheinen vielen, die sich der Hochkultur zugehörig fühlen, als nicht ernst zu nehmende Versuche mittelmäßiger Komponisten, sich wichtig zu machen. Obwohl es oft stimmt, stimmt es nicht immer. Denn die Kunstmusik gehört nicht nur den Symphonieorchestern und den geschniegelten Damen und Herren im feierlichen Gewande! Die Litanei von Vorurteilen, die lediglich der auf die Musik bezogene Teil eines viel umfassenderen Pakets von Vorurteilen ist, die das eine Milieu gegenüber dem anderen hegt, könnte noch lange fortgesetzt werden. In der Abneigung bzw. im Verständnis gegenüber der Musik der anderen erweist sich der innere Frieden einer Gesellschaft als gegeben oder nicht. Um ihn zu erhöhen, ihn zu erhalten oder ihn noch mehr herbeizuführen, haben es sich die Innsbrucker Promenadenkonzerte zum Ziel gesetzt, für Toleranz zumindest im Bereich der Musik zu werben. Dies geschieht ganz konkret durch die Bitte an alle Orchester, in ihren Programmen möglichst viele musikgeschichtliche Epochen, möglichst viele musikalische Stilrichtungen und möglichst viele musikalische Genres wiederzugeben. Dies wiederum führt dazu, dass die Programme in der Regel mehr als zehn Stücke enthalten, von denen keines länger als 15 Minuten sein sollte.
Und es führt dazu, dass das Publikum, das den Innenhof der Kaiserlichen Hofburg jederzeit betreten, aber auch wieder verlassen kann, im ersten Teil eines Konzerts zur Musik verführt werden soll. Im zweiten Teil, wenn das Orchester durch Können und Leidenschaft ein entsprechendes Vertrauen aufgebaut hat, soll das Publikum durch komplexere Werke herausgefordert werden. Im dritten Teil wird es, durch eingängige Melodien und Evergreens versöhnt, wieder in den Abend entlassen.

Das Team der Innsbrucker Promenadenkonzerte würde sich glücklich schätzen, wenn es auch 2018 gelänge, im Gesamtkunstwerk von 350 verschiedenen Werken, die von 38 verschiedenen Orchestern und Ensembles an 28 Spieltagen aufgeführt werden, die breite Palette einer modernen Gesellschaft, die in gegenseitiger Toleranz zu leben gelernt hat, widerzuspiegeln. Alois Schöpf, künstlerischer Leiter

Dienstag, 29. Mai 2018

"Niederschwelligkeit" bei Gratis-Konzerten ist gescheitert

Markus Stegmayr



Niederschwelligkeit” bei Gratis-Konzerten ist gescheitert
Geiz ist geil. Noch besser als billig ist gratis. Kunst darf alles, vor allem aber nichts kosten. Jahrhundertelang war die Kunst böse und auf der Seite der Mächtigen und Reichen. Jetzt hat sie sich endlich demokratisiert und ist für jeden zugänglich. Gratis-Konzerte und Gratis-Festivals sprießen in Österreich nur so aus dem Boden. Dass das so ist, verdanken wir der Idee der Niederschwelligkeit”.
Das Konzept dahinter ist einfach. Vor allem die Schwelle der Bezahlung wird dabei niedergerissen. Teure Konzerttickets sind passé. Um die imaginäre Schwelle zwischen Alltag und Kunstgenuss zu überschreiten, muss nicht mehr tief in die Brieftasche gegriffen werden. Damit fällt auch eine weitere Schwelle. Wer zu Gratis-Konzerten geht, lässt das, was dort geschieht, auf sich zukommen. Der Gratis-Festival-Konsument” ist ein Konsument des Schaun-Wir-Mal”. Er ist zwar grundsätzlich offen, begeistert zu werden, erwartet sich das aber nicht unbedingt. Wenn sich die Momente der Begeisterung nicht einstellen, dann ist zumindest nichts verloren. Schließlich hat man ja nichts bezahlt und im besten Fall dennoch ein paar nette Augenblicke im Freien mit Freunden und Alkohol verbracht.
Das macht etwas mit dem Werk, das rezipiert wird.

Seit jeher ist die Komposition und das Musikstück von Schwellen umgeben. Vor Jahrhunderten war es die Schwelle des Hofes. Wer dort nicht gerne gesehen war und keinen Zutritt hatte, etwa wegen fehlendem Adelstitel, hatte oft auch keinen Zugang zum Musikgenuss. Diese Schwelle gibt es, zum Glück, nicht mehr. Im Heute ist sie, zumindest im Bereich der
Hochkultur”, durch eine abgemilderte Form ersetzt worden. Der “Geld-Adel” bleibt immer noch gerne unter sich und schützt sich mit der Schwelle von hohen und allzu hohen Eintrittspreisen.

Eine weitere Schwelle, die es zu überschreiten gilt, ist das Musikstück selbst. Nicht jede Komposition und jedes Musikstück öffnet sich von selbst und ist selbsterklärend. Oftmals braucht es Kontextwissen, Vorbereitung und vorausgehende und intensive Hörarbeit”.
Beim Konzept der Niederschwelligkeit finden wir eine komplexe Situation vor. Alltag und Kunst-Situation” sind weniger getrennt als je zuvor. Gut möglich, dass man in Wien in den nächsten Tagen durch die Straßen läuft und auf ein Popfest” trifft, mit dem man gar nicht gerechnet hatte. Gut denkbar, dass man sich an einem lauen Sommertag dann hinsetzt und schaut, ob einen etwas fesselt und interessant vorkommt.
Der Kunstgenuss ist jedenfalls fragmentiert und durch die fehlende Bezahlschranke” grundlegend verändert. Der gerade spielenden Band wird weniger Geduld entgegengebracht. Sie muss sofort überzeugen. Spannungsbögen und Programme, die sich erst durch den gesamten Verlauf des Konzertes erschließen, haben es hier schwerer als in einer Situation, für die Geld bezahlt wurde. Wer bezahlt, hat sich meist bewusst für ein Konzert entscheiden. Mit dieser bewussten Entscheidung geht zumeist auch eine bewusste und aufmerksame Rezeption einher. Man hat ja bezahlt und möchte etwas bekommen, dass diesen Geldwert rechtfertigt.
Aber nicht nur der Kunstrezeption ist verändert. Auch das Publikum bei Gratis-Konzerten und Gratis-Festivals unterscheidet sich von dem bei Bezahl-Konzerten und Bezahl-Festivals. Das Publikum bei Letzteren ist, mehr oder weniger, homogen. Zumindest kann es sich aber in den allermeisten Fälle auf Erwartungshaltungen und Ästhetik-Vorstellungen einigen, die in der Konzert-Situation kompatibel sind.
Bei niederschwelligen bzw. schwellenlosen Gratis-Events ist das Publikum zutiefst heterogen. Die Erwartungshaltungen lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Das stellt die beteiligten Künstler, Programmgestalter und Bands vor Herausforderungen. Doch wie wird auf diese Herausforderungen reagiert? Meist mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner. In vielen Fälle mit Stücken, Kompositionen und ästhetischen Konzepten, die als Allgemeingut gut und für die allermeisten Zuhörer sofort zugänglich sind.

Das New-Orleans-Festival in Innsbruck zeigt beispielsweise die Konsequenzen der sogenannten “Niederschwelligkeit”. Struktur und Aufbau der jeweiligen Songs müssen altbekannt sein. Der Blues ist da natürlich ein dankbarer Wegbegleiter. Neben Eigenkompositionen darf nicht auf Standards und bekannte Lieder vergessen werden, zu denen das Publikum mitsingen kann. Irritationen und musikalische Abenteuer sollten ausbleiben.
Ein paar Hundert Meter vom Landhausplatz entfernt gehen im Juli die “Innsbrucker Promenadenkonzerte” über die Bühne. Auch dort wird manchmal gemurrt, wenn es einmal zu anspruchsvoll werden sollte. Insgesamt hat man es dort aber in über zwanzig Jahren geschafft, eine einheitliche Ästhetik und Qualität zu etablieren. Das Publikum, obgleich nicht homogen in Wünschen und Ansprüchen, lässt sich zumindest auf gewisse Irritationen und Grenzüberschreitungen ein. Nur wenige verlassen bei akuter Überforderung der eigenen Hörgewohnheiten die Location.
Was sagt uns das? Wohl auch, dass wir der Gratis-Konzert-Schwemme skeptisch, aber nicht völlig ablehnend gegenüberstehen sollten. Ist das Konzept der “Niederschwelligkeit” gescheitert? Ja, zum Teil. Aber es gibt Hoffnung. Zumal dann, wenn man sich nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden gibt, sondern diesen immer wieder dezent, aber konsequent in Frage stellt und um zusätzliche Aspekte anreichert. Die Heterogenität des Publikums kann auch Chance sein. Die “Niederschwelligkeit” kann auch dazu führen, Menschen mit ihnen bisher unbekannten Kunstformen und Spielarten in Berührung zu bringen. Zumindest potentiell.